Abbruch meiner Pilgerreise
Zum Tempel 14 waren es 2,3 km, zum Tempel 15 nur 0,8 km und zum Tempel 16 wären es theoretisch nochmal 1,7 km gewesen, nur da ich mich verlaufen hatte, war der Weg länger.
Am Tempel 16 traf ich die japanische Pilgerin Judi in Begleitung eines anderen japanischen Pilgers wieder. Sie saßen auf Steinen und schwatzten. Da das Gelände sehr weiträumig war, ließ ich meinen Rucksack bei ihr, um mir nach den Gebeten meinen Stempel zu holen.
Sicherheitshalber fragte ich die Tempelpriesterin wieder nach einer Übernachtung. Ich wusste, dass dies hier eigentlich nicht möglich ist. Aber wer weiß, vielleicht hatte ich Glück? Die Tempeldame war sehr korrekt und distanziert, aber verneinte dies.
Ich bin psychisch und physisch über meine Grenzen gegangen.
Durch
- den langen und für mich ungewohnten Marsch,
- die dauernde Suche nach dem Weg (nicht überall fand ich Wegweiser),
- durch das fehlende Essen (an mir war kein Gramm Fett mehr),
- der schwere Rucksack schnitt inzwischen in mein Fleisch ein,
- fehlende Körperhygiene,
- die tropischen Sommertemperaturen,
- die hohe Luftfeuchtigkeit von ca. 90%,
- den tropischen Regen,
- das undichte Zelt,
- die Einsamkeit und damit mangelnde Kommunikation war ich
… psychisch und physisch völlig entkräftet.
Ich war losgelaufen, ohne mich an die Zeitumstellung zu gewöhnen. Auch hatte ich mich nicht ausreichend mit den Besonderheiten dieser für uns so fremden Welt auseinandergesetzt. Bereits früh fing ich an, die Umgebung nach möglichen Stellplätzen für mein Zelt abzusuchen.
Nichts war mehr geblieben von meiner Ruhe und Gelassenheit. Anfangs lachte ich über mich, wenn ich früh im Straßenspiegel meine Haare kämmte und meine Zähne an einer Wasserstelle putzte. Doch inzwischen kämpfte ich einfach um die elementaren Grundbedürfnisse – Essen, Trinken und Schlaf – um mein Überleben. An Selbstverwirklichung war nicht mehr zu denken. Nicht ich war es, die bestimmte. Die Umstände bestimmten über mich. Gab es etwas zu Essen – dann aß ich. Gab es eine Übernachtungsmöglichkeit – dann übernachtete ich.
Und hier vor dieser Tempeldame hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Wieder ein Nein ohne eine Alternative. Diesmal von dieser Dame, die da im klimatisierten Raum saß und kühl lächelte. Da verlor ich jegliche Fassung. Die Tränen rannen, ohne dass ich einen Einfluss darauf hatte. Und schon trat das nächste Problem auf. Hatte ich aus Gewichtsgründen doch nur ein einziges Taschentuch mitgenommen! Es war wirklich zum Verzweifeln, denn das Taschentuch war nach einer Minute patschnass.
Ryofu aus Tokyo half mir
Mühsam versuchte ich zu überlegen, was ich nun tun konnte? Mir fiel Ryofu ein – der Mann dessen Telefonnummer mir die Nonne am ersten Tempel gegeben hatte. Er hatte die Runde schon absolviert und kannte sich demzufolge hier aus. Ich rief ihn in Tokyo von meinem Handy an und schluchzte.
Er bewahrte die Ruhe und bat mich, seine Telefonnummer der Tempelpriesterin zu geben, da dies auf jeden Fall preiswerter war, als über Deutschland zu telefonieren. Dies machte ich und sie war auch wirklich bereit ihn anzurufen. Nun erzählte ich Ryofu erst einmal grob, was inzwischen passiert war. Auch wenn ich völlig KO war, so tat es mir dennoch unendlich gut, einmal jemandem von meinen Erlebnissen erzählen zu können.
Er bat mich, das Telefon der Tempeldame zu geben und fragte sie auch noch einmal nach einer Übernachtung auf Japanisch. Sie verneinte dies wieder. Ryofu wusste aber von seinen Pilgerreisen, dass man am Tempel 17 definitiv übernachten konnte.
In der Zwischenzeit kam Judi zum Stempelgebäude, um zu schauen, wo ich blieb. Sie hatte ja meinen Rucksack bewacht und wollte nun weiterlaufen. Auch sie war betroffen von der Verfassung, in der ich mich befand und bot Ryofu an mich bis zum nächsten Tempel mitzunehmen.
Auch wenn ich noch so fix und fertig war, bleiben konnte ich nicht bei diesem Tempel. Also beschloss ich gemeinsam mit Judi weiter zu ziehen. Ich verabschiedete mich von Ryofu und versprach ihm, mich ab sofort regelmäßig bei ihm zu melden.
Judi und der Fahrradpilger
Der dritte im Bunde war der Mann, mit dem sie geschwatzt hatte. Er machte die Pilgerreise mit einem Fahrrad, auf das er sein Gepäck geschnallt hatte. Spöttisch würde ich ihn folgendermaßen beschreiben – er hatte oben keinen Zahn und unten 3 Zähne, er war aber definitiv sauberer als ich. Er war vielleicht 50 – 60 Jahre, dunkelhäutig und sehr dünn. So wie ich es verstand, kannte er den Pilgerweg und wollte Judi als Guide bis zum 35. Tempel dienen.
Während der nächsten Kilometer sprach er unablässig auf Judi ein. Mir war das egal, verstand ich eh nur jedes achte Wort. Unterwegs kommunizierten wir immer wieder mit Hilfe von Ryofu. Judi sprach sehr schlecht Englisch und traute meinen japanischen Kenntnissen nicht wirklich, so dass sie sich immer wieder bei Ryofu übers Telefon erkundigte. Ryofu übersetzte alles ganz geduldig für uns.
So erfuhr ich, dass Judi etwas weniger Zeit als ich für die Wanderung zur Verfügung hatte. Sie wollte täglich 20 km laufen, um die gesamte Strecke in ihrem Zeitlimit zu schaffen. Gut 20 km am Tag – das war zwar etwas viel für mich. Ich hatte festgestellt, dass mir bei diesem tropischen Klima schon 10 km am Tag reichten.
Aber andererseits bräuchte ich mir keine Sorgen mehr wegen den Übernachtungen zu machen (Judi konnte Zimmer per Telefon vorbestellen und wir konnten Kosten durch das Doppelzimmer sparen) und sie fand sicher auch Supermärkte. Damit könnte ich viel Kraft und Nerven sparen. So sagte ich mir, wenn sie 20 km am Tag schafft, dann schaffe ich das auch. Hier klang schon wieder mein Ego durch.
„Leider ist jetzt keine Übernachtung möglich“
Wir liefen also die 2,9 km zum Tempel 17. Dort sollte das Übernachten laut meinem Atlas und nach Aussage von Ryofu möglich sein. Ich bat Ryofu, das telefonisch für mich zu regeln. Ryofu rief mich zurück und meinte „Leider ist jetzt keine Übernachtung möglich“.
Ich trug es mit Fassung und beschloss, dann gehe ich mit Judi ins Hotel. Der Fahrradguide kannte ein Preiswertes, wo Judi uns telefonisch voranmeldete.
Nach dem Tempelbesuch setzte der Regen wieder ein und wir liefen los in Richtung Hotel. Der Fahrradpilger fuhr vorn weg und wir trabten hinterher. An einem Supermarkt (mein Herz und mein Magen freuten sich unsäglich) liefen wir vorbei. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, wir gehen erst ins Hotel und dann Essen.
„Wie weit ist es noch bis zum Hotel?“ „Ja vielleicht noch 3 km“. Wir liefen und liefen. „Wie weit ist es noch?“ „Noch ein bisschen.“ Und es regnete und regnete. Irgendwann kamen wir an einem Zugbahnhof an. Wir standen da und warteten auf irgendetwas, ich hatte keine Ahnung – auf was.
Der Fahrradpilger war mir unheimlich
Dort wo wir standen, war die Damentoilette. Ich beobachtete, wie der Fahrradpilger den Mädchen, die sich am Spiegel kämmten, unter die Röcke sah. Hm – er sah wirklich nicht sonderlich seriös aus. So bat ich Judi um das Telefon und rief Ryofu noch einmal an. Er meinte, dass dieser Mann kein anerkannter Pilgerleiter sei und bat mich – „Bitte sei vorsichtig“. Wir warteten, warteten und warteten ohne dass ich eine Idee hatte, worauf.
Auf einmal sprachen Judi und der Fahrradpilger vom Zelten. Das konnte ich ganz deutlich verstehen. Hier an diesem Bahnhof zelten? Das wurde mir nun echt unheimlich, da dieser Bahnhof nicht wirklich sauber war und sehr viele wilde Katzen herumliefen. Wieder rief ich bei Ryofu an und er riet mir, meine Pilgertour abzubrechen und nach Tokushima (mein Ausgangsort) zurück zu kehren.
In mir brach eine Welt zusammen.
Konnte ich mir doch absolut nicht vorstellen, noch einmal den Tempel 17 wieder zu finden. Auf die Idee mit dem Zug noch einmal hierher zu fahren, kam ich überhaupt nicht. Auch waren wir vom Tempel 17 mehrere Kilometer bis zum Bahnhof gelaufen, ohne dass ich auf die Richtung geachtet hatte. Sollte ich etwa noch einmal die ganze Tortur vom ersten Tempel an wiederholen, um den Tempel 17 wieder zu finden?
Breche ich die Pilgertour ab? Was soll ich 9 Wochen in Tokushima machen? Dort könnte ich nicht zelten und 9 Wochen im Hotel wohnen, wer sollte das bezahlen? War alles umsonst, die ganze Quälerei? Ich war völlig KO und sah aber keine andere Option.
Ich erkundigte mich, wie ich denn mit dem Zug nach Tokushima fahren kann. Zwei Mädchen erklärten mir, dass sie auch dahin wollen. Dann verabschiedete ich mich von Judi und dem Fahrradpilger und stieg nach einer Woche das erste Mal in einen Zug und fuhr gerade mal 2 Haltestellen nach Tokushima.
Wenn man sich den Pilgerweg auf der Karte ansieht, kann man dies verstehen. Ich war in das Landesinnere der Insel auf der einen Seite der Ebene hinein und auf der anderen Seite wieder zurückgelaufen. Ich konnte dies auf meinem rein japanischen Atlas leider nicht erkennen.
Auf dem Bahnhof in Tokushima angekommen, kannte ich ja mittlerweile die Touristeninformation. Diesmal traf ich Mario, einen Deutschen, der dort arbeitete. Er vermittelte mir ein gut bezahlbares Zimmer im „Tokushima Station Hotel“. Das Hotel fand ich dann auch beim zweiten Anlauf.
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